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 Sieben Stunden Angst

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Tristan Aurel

Tristan Aurel


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BeitragThema: Sieben Stunden Angst   Sieben Stunden Angst EmptyDi Jan 18, 2011 8:00 pm

„Ich glaube nicht, dass es in der Literatur möglich ist,
echte Angst zu erzeugen.”
- Stephen King.

Es war wirklich ein verflucht heißer Sommer.
Die kalte Dusche tat gut. Noah stöhnte wohlig auf, als das eiskalte Wasser über seinen erhitzten, braungebrannten Körper lief.
Heute hatte er keine Hausaufgaben auf und würde mit Sabrina ins Freibad gehen. Er freute sich tierisch auf diese Verabredung. Auch wenn sich viele seiner Mitschüler und Freunde darüber lustig machten.
Er galt als der angesagteste Junge der Schule und in den Augen vieler Mitschüler war es ein Sakrileg, wenn er sich mit “Unkraut” wie Sabrina einließ, anstatt mit Mandy, der gerade beliebtesten Schulschönheit. Besonders, weil Sabrina als Außenseiterin galt, die mit ihrem punkigen Outfit so gar nicht den gängigen Schönheits - und Kleidungsidealen entsprach.
Doch gerade das mochte Noah an ihr.
Sie war keine hochgestylte, selbstverliebte Barbiezicke, für die es nicht wichtigeres gab als Shoppen und die heimliche Wichsvorlage aller Jungs zu sein.
Sabrina war ungekünstelt, sagte was sie dachte und besaß viel Humor. Manchmal konnte sie so richtig mit dem Lachen herausplatzen.
Noah lächelte bei dem Gedanken an ihr Temperament, ihre Lebendigkeit. Scheiß auf die Meinung der Anderen! Sabrina war cool.
Außerdem kotzte es ihn an, dass sich alles nur um Äußerlichkeiten drehte. Besonders zuhause. Seine Mutter tat alles für ihn und Noah zweifelte keinen Moment daran, dass sie stets im besten Sinne handelte. Trotzdem war es ihr Ehrgeiz gewesen, der ihn um einen Großteil seiner Kindheit gebracht hatte.
Seit seinem fünften Lebensjahr zerrte sie ihn vor die Kamera: Fotoshootings, Fernsehwerbung und Kinoreklame - überall war er vertreten. Durch Ma´ s Einsatz stieg er schon mit acht zu eines der gefragtesten Pre-Male-Kindermodels Deutschlands auf. Mit zehn war er bereits in jedem großen Modekatalog vertreten und sein blitzendes Lächeln mit den Grübchen in den Wangen strahlte von so mancher Plakatwand.
Für eine normale Kindheit war da kaum Zeit geblieben.
Und für Freunde erst recht nicht.
Nur einer hatte ihm über die Jahre die Treue gehalten: David, der dreizehnjährige Nachbarjunge aus dem Haus nebenan. Und das, obwohl Noah kaum Zeit für ihn hatte und ihn oft wegen kurzfristiger Termine versetzen musste.
Er hatte David gegenüber oft ein schlechtes Gewissen.
Im Moment war es besonders schlimm. Jetzt mit vierzehn zählte Noah nämlich nicht nur zu den meistgebuchtesten Teenmodels Europas, inzwischen stand er auch für diverse Kurzauftritte und Nebenrollen in Fernsehfilmen vor der Kamera. Ein weiterer Verdienst seiner geschäftstüchtigen Mutter. Zugegeben, die kurzen Filmrollen machten ihm Spaß. Auch wenn sie nur sein Äußeres herausstellten und nicht sein Talent, das ihm von mehreren Regisseuren bescheinigt wurde. Dabei liebte er es, in Figuren zu schlüpfen, einen fremden Charakter darzustellen. Filmschauspieler - das war sein großer Traum...
Das Telefon schrillte.
Noah seufzte und stellte die Dusche ab. Große Lust hatte er nicht, dranzugehen. Aber was, wenn es Sabrina war?
Er trocknete sich flüchtig ab, band sich ein weißes Badetuch um die Hüften und lief tropfend ins Wohnzimmer. Seine nackten Füße hinterließen auf dem hellen Teppichboden nasse, dunkle Abdrücke.
Hastig nahm er den Hörer ab. „Barsotti?” fragte er und wischte sich das Wasser von der Stirn.
„Telefonstreich!”
„Timo, du kleiner Penner! Und deswegen komme ich unter der Dusche raus?”
Das Lachen eines kleinen Jungen schallte durch den Hörer. Noah legte wütend auf, drehte sich um und wollte gerade in die Dusche zurück, als das Telefon erneut schrillte. „Timo, wenn du das jetzt wieder bist, ich schwör´ dir, ich...”
„Schalt das Internet ein und sieh im Postfach nach!”
„Was? Wer ist da? Timo?”
„Hängst du an deinem Bruder?”
Noah stutzte. Die Stimme klang nicht nach einem Jungen. Sie klang männlich und rau. „Wer sind Sie?”, wurde Noah laut. „Und was wollen Sie?“
„Dass du im Postfach nachschaust, du kleiner Pisser!”
„Warum sollte ich?”
„Weil es dein Leben verändern wird.”
Ein verflucht ungutes Gefühl überkam Noah. Das klang nicht nach einem Scherz. Etwas Kaltes, Mitleidloses lag in der Stimme des Anrufers und ließ keinen Zweifel daran, dass er es ernst meinte. Mit zunehmender Nervosität setzte sich der Junge an den Computer, ging online und öffnete sein Postfach.
„1 neue Nachricht“ stand dort. Noah klickte sie an und auf dem Bildschirm öffnete sich ein Video: Auf dem Monitor waren plötzlich seine Eltern und seinen jüngerer Bruder Kevin zu sehen: Gefesselt und geknebelt saßen sie auf einer Couch und starrten verängstigt in die Kamera. Noahs Augen weiteten sich entsetzt. Er war unfähig zu atmen, seine Muskeln verkrampften sich.
„Du wirst jetzt genau das tun, was wir sagen, klar?”, ertönte die Stimme wieder. „Wenn du die Bullen rufst, sind sie tot. Versuchst du uns zu verarschen, sind sie tot. Verstanden? Du siehst uns nicht. Aber wir sind immer in deiner Nähe. Wir sehen und hören dich. Und damit du auch weißt, das wir es ernst meinen...”
Die Kamera zoomte auf seine Mutter. Dann ertönten Schüsse, Kugeln durchsiebten ihren Brustkorb. Ihr Blut spritzte über seinen Vater, seinen Bruder. Noah schrie entsetzt auf, ließ den Hörer fallen und fuhr vom Stuhl hoch, der polternd zu Boden fiel.
„HEB DEN HÖRER AUF!”, brüllte die Stimme aus dem Telefon. Doch Noah war unfähig sich zu bewegen. Seine Mutter - ermordet! Er atmete immer schneller. Sein Herz flatterte. „Das ist nicht wahr”, murmelte er abgehackt und schüttelte mit tränenüberschwemmten Augen den Kopf. „Das passiert nicht wirklich.”
„WENN DU NICHT WILLST, DASS DEIN VATER DER NÄCHSTE IST, HEBST DU JETZT VERDAMMT NOCHMAL DEN SCHEISS HÖRER AUF!”
Noah beugte sich zitternd runter und hob ihn auf. „Sie verdammtes Schwein!“, Warum haben Sie das getan?”
„Ich sagte doch: Damit du uns ernst nimmst. Nimmst du uns jetzt ernst?”
Der Jugendliche schluckte. Tränen liefen über sein Gesicht. „Ja.”
„Du würdest mich jetzt gerne töten, oder?”
Noah presste die Lippen zusammen. Seine Gesichtsmuskeln zuckten.
„Du brauchst nicht zu antworten. Ich weiß, du würdest es gerne.”
„Was wollen Sie von mir?” Der Vierzehnjährige hatte das Gefühl, sein Herz würde gleich aus seiner Brust hinausimplodieren.
„Wir haben dir ein kleines Geschenk dagelassen. Schau auf dem Küchentisch nach.”
Noah holte tief Luft und ging zögernd in die Küche. Auf dem Tisch lag eine kleine schwarze Schachtel. Er stutzte. Wie war sie hier reingekommen? Er hätte schwören können, dass sie eben noch nicht da war, als er von der Schule nach Hause kam. Jemand musste sie dort hinterlassen haben... während er unter der Dusche stand!
Die Erkenntnis traf Noah wie ein Faustschlag in den Magen: Jemand hatte Zugang zum Haus. Natürlich! Wer auch immer seinen Pa festhielt, hatte auch dessen Haustürschlüssel. Ein unheimliches Gefühl stieg in ihm hoch. Ängstlich blickte er sich um. War vielleicht sogar noch jemand im Haus? Jetzt, in diesem Moment?
„Worauf wartest du? Geh hin und öffne sie!”, befahl die Stimme aus dem Hörer.
In der Schachtel lag ein kleiner, mattglänzender Knopf und ein Bündel Euroscheine in einer Geldklammer.
„Steck dir den Knopf ins Ohr... So ist gut. Kannst du mich hören?”
Noah schaltete das Telefon aus und legte es auf den Tisch. „Laut und deutlich.”
„Das ist allerneueste Spyware-Technologie. Damit kannst du gleichzeitig hören und sprechen. Ersetzt jedes Kehlkopfmikrofon. Fühl dich geehrt, immerhin ist es noch nicht mal auf dem Markt.” „Ich kann mein Glück kaum fassen”, erwiderte Noah mechanisch, dem jede weitere Sekunde im Haus unerträglich wurde.
„Bravo, nur nicht den Humor verlieren. Und wenn du alle Anweisungen befolgst, verspreche ich dir, dass deinem Vater und deinem Bruder nichts passiert.”
„Vielleicht lügen Sie ja.”
„Möglich. Aber so wie ich das sehe, hast du keine Wahl, oder?” Der Mann lachte. „Tja, so ist das Leben. Eben noch ein pubertierender Schüler, der sich beim Playboy lesen einen runterholt und im nächsten Moment schon Nachwuchskiller.”
„Was?”, keuchte der Junge entsetzt. Sein Magen verkrampfte.
„Das ist dein Auftrag. Du wirst jemanden töten.”
„Sind Sie total bescheuert?”, schrie Noah. „Ich bringe niemanden um!”
„Wie du willst, Mr. Werbespot! Schau auf den Bildschirm.”
Die Kamera schwenkte auf seinen Vater.
„Halt, warten Sie!”, rief Noah panisch. „Töten Sie ihn nicht, bitte!”
„Du tust es?”
„Verlangen Sie das nicht von mir”, weinte Noah verzweifelt. „Ich bin doch erst vierzehn.”
„Und gerade deswegen für unser Vorhaben perfekt.”
„Bitte, ich will das nicht tun.”
„Es ist jetzt halb zwei“, erwiderte die Stimme kühl. „Wir geben dir genau sieben Stunden um den Auftrag auszuführen. Läuft alles zu unserer Zufriedenheit, lassen wir deine Familie frei. Wenn nicht – Tja…”
Noah schluckte. „Was soll ich tun?”
„Zieh dich an, steck das Geld ein und ruf dir ein Taxi.”
„Und welches Fahrziel?”
„Das sag ich dir, sobald du ins Taxi steigst.”

*

Durch die Glastür sah Noah das Taxi vorfahren.
Als er aus dem schattigen Haus in das grelle Sonnenlicht hinaus trat, arbeitete sein Hirn fieberhaft. Er schloss die Haustür hinter sich und blieb stehen. Seine Beine zitterten und in seinem Gesicht zuckte es verräterisch. Ma war tot. Jemand hatte sie einfach abgeknallt. Und dieser Jemand würde auch nicht zögern, seinen Bruder Kevin und Pa umzulegen. Er erschauerte. Wieder traten ihm die Tränen in die Augen. Er musste sich jetzt zusammenreißen, auch wenn es noch so schwer fiel.
Mit zusammengekniffenen Augen suchte er verzweifelt die Umgebung ab. Nach irgendwas, das ihm helfen konnte, nach irgendwem. Aber der Anblick, der sich ihm bot war so friedlich und perfekt, wie in einer dieser amerikanischen Vorabendserien. Geradezu unwirklich. Die Einzigen, die vorbei gingen, war das alte Ehepaar Habsburger mit ihrem ergrauten Rauhaardackel.
„Worauf wartest du?”, ertönte die Stimme in seinem Ohr. „Geh weiter! Und denk nicht daran, mit den beiden Alten Kontakt aufzunehmen. Vergiss nicht, das Leben deiner Familie hängt an einem seidenen Faden.”
„Hey, Noah!”, rief eine Kinderstimme. Sie gehörte Timo, Davids zehnjährigen Bruder, dem kleinen Quälgeist der Nachbarschaft. Er kam mit seinem neuen Mountainbike angebraust, das quietschend vor Noah zu stehen kam.
Der Zehnjährige strahlte ihn breitgrinsend an. „Was willst du?“, fuhr Noah ihn ungehalten an. „Ich hab jetzt echt keine Zeit für dich!”
„Etwa immer noch sauer wegen dem Telefonstreich eben? Komm schon, das war doch bloß´ n Joke. Wollte eigentlich nur wissen, ob du zuhause bist. Hey, hab gehört du hast Sabrina am Haken? Die ist voll nett!”
Sabrina - die hatte er ja völlig vergessen. Sie würde schön sauer sein, wenn er nicht zum Date kam. Aber darüber konnte er sich jetzt keine Gedanken machen. Er hatte wirklich andere Probleme.
„Wimmel ihn ab!”, befahl die Stimme in seinem Ohr.
„Verschwinde Timo. Ich hab´ s eilig.”
„Jaja”, ließ der Kleine das Rad zu Boden gleiten und trat Noah in den Weg. „Aber du weißt ja noch gar nicht, was ich will...”
„Mein Taxi wartet!”, erwiderte Noah gereizt und schob den Jungen beiseite. „So wichtig kann es ja wohl nicht sein, oder?”
Timo lief ihm nach, hielt ihn am Arm fest.
„Verflucht, Timo, du gehst mir wirklich...”
Noah stutzte, als er in das Gesicht des vorlauten Jungen sah. Es war sehr ernst, beinahe ängstlich. Seine Lippen bewegten sich lautlos. Und sie formten Worte, die Noah verstand. Er selbst hatte Timo und David mal das Lippenlesen beigebracht, nachdem sein Vater es ihm gezeigt hatte: „Ich-weiß-was-abgeht”, gab Timo ihm zu verstehen. „Du-brauchst-Hilfe!”
Noah hielt die Luft an. Woher wusste der Kurze das? Wie konnte er...
„Wimmel ihn endlich ab, oder ich schwöre dir, er ist die nächste Leiche!”
Noah schluckte, als auf der Stirn des Zehnjährigen ein roter Laserpoint erschien. „Was zum Teufel willst du denn?“, fragte er aufgeregt und stellte sich so vor Timo, dass er den Laserpoint mit seinem Körper abfing. Der rote Punkt musste jetzt irgendwo auf seinen Rücken zeigen. Nun war der Schütze gezwungen, durch ihn hindurch zu schießen, wenn er Timo töten wollten. Aber das würde er nicht.
Sie brauchten ihn schließlich.
„Ich muss ins Taxi”, erklärte Noah ungehalten. „Ich kann nicht schon wieder zu spät zum Fotoshooting kommen.“ Er bewegte die Lippen: „Verzieh-dich-Gefahr!”
„Schade!”, sagte Timo laut. „Ich dachte, du würdest vielleicht heute mit David und mir schwimmen gehen.“ Dann fügte er lautlos hinzu: „Ich-folge-dir. Sag-dann-Polizei-wo-du-bist.”
„Nein!”, sagte Noah schnell und warf Timo einen beschwörenden Blick zu. „Auf keinen Fall!”
„Morgen vielleicht?”
„Morgen vielleicht!”, tat Noah genervt und schritt eilig zu dem Taxi, ohne sich noch einmal zu Timo umzudrehen.
„Hey, Noah! Warte doch mal!” Timo rannte hinter ihm her.
„Verdammt, ich hab keine Zeit für dich!”, fuhr Noah ihn wütend an. „Hau endlich ab! Spiel mit Sascha, aber lass mich in Ruhe!”
In Timos Augen blitzte etwas auf. Er hatte verstanden.
„Hältst dich wohl für was besseres, he?”, schlug er um und tat beleidigt. „Kannst mich doch mal, du blöder Sack!” Mit glaubwürdig gespielter Wut stieg Timo auf das Rad und radelte eilig davon.
Noah betete innerlich. Der Kurze hatte die Botschaft verstanden. Jetzt lag alles an ihm.
Vielleicht gab es doch noch Hoffnung für Kevin und Pa.
Noah schluckte. Und für ihn selbst.
Er ging auf das Taxi zu.
„Wo soll es hingehen?”, fragte er halblaut.
„Sag ihm, du willst zum Swissotel!”, ertönte es in seinem Ohr.
Noah öffnete die Beifahrertür und stieg ein.
„Einmal Swissotel, bitte!”

*

Timo radelte so schnell er konnte.
Er musste Sascha informieren. Der würde wissen, was zu tun war. Schließlich war er Polizist. Timo blickte nervös über seine Schulter zurück. Wieso hatte er das Gefühl verfolgt zu werden? Es war vielleicht ein Fehler gewesen, über diese alte Seitengasse zu fahren. Sicher, sie war eine Abkürzung zur Polizeiwache, aber es wäre besser gewesen, auf der Hauptstraße zu bleiben, wo viele Menschen waren. Schließlich zeigten sie das doch immer in den Actionfilmen seines Vaters, die er manchmal heimlich schaute.
Als er nach vorne blickte, fuhr ihm ein silberner Golf genau in den Weg. Timo bremste abrupt, verlor die Kontrolle über das Rad und stürzte.
Zwei Männer eilten aus dem Wagen. Timo schoss hoch, versuchte wegzulaufen. Aber er hatte sich das Knie aufgeschlagen und kam nur humpelnd vorwärts...
Ein leises Ploppen ertönte. Timo stürzte zu Boden, schlug mit dem Kopf auf. Regungslos blieb er liegen.
Einer der Männer trat herbei und beugte sich über ihn. Auf dem T-Shirt breitete sich ein Blutfleck aus.
„Erledigt?”, fragte der andere Mann, während er sich suchend umblickte. Einen besseren Ort hatten sie sich gar nicht wünschen können. Die alte Zufahrtsstraße zum Bahnhof war so gut wie unbewohnt. Weit und breit kein Zeuge. „Erledigt”, antwortete sein Partner mit seltsam trauriger Stimme.
„Dann wirf ihn in einen der Müllcontainer und lass uns verschwinden.”
„In einen Container?”
„Soll ich dich vielleicht zum Beerdigungsinstitut fahren, damit du für ihn einen schönen Sarg auswählen kannst?”
„Du Arschloch! Er war doch ein Kind.”
„Er war eine Gefahr, klar? Wir dürfen keine Fehler machen. Gefühle können wir uns nicht leisten. Meinst du, mir macht das Spaß? Ich habe selber Kinder. Aber wenn ich will, dass sie ihren nächsten Geburtstag erleben, schalte ich mein Gewissen aus und erfülle meinen Auftrag. Vergiss nie, welches Ziel wir haben. Was wir heute tun, wird die Welt verändern. Das geht vor allem anderen. Und jetzt entsorg den Jungen.”
Sein Partner nickte, öffnete den großen Müllcontainer und legte den leblosen kleinen Körper hinein.
„Das Fahrrad auch. Und mach den Deckel runter.”
„Und wenn sie ihn hier finden?”
„Werden die Bullen rumrätseln, wieso ein kleiner Junge erschossen wurde. Kein Motiv, keine Spuren. Abgesehen davon: Wer kommt schon hierher?”
Sein Partner nickte. „Auch wieder wahr.”
Dann stiegen die beiden Männer zurück in ihren Wagen und fuhren weiter.

*
Der Taxifahrer, ein schlanker kahlrasierter Mann mit Schlafzimmerblick, grinste Noah aufmunternd an. „So trübe Stimmung, bei so tollem Wetter?” Er drückte das Radio
an. Irgendein Gospelchor sang „Oh, Happy Day”.
Der Junge antwortete nicht. Er war in Gedanken bei seiner Familie, die Todesangst ausstand und bei Timo, der alle seine Hoffnungen trug.
„Wehe, du erzählst dem Fahrer was. Dann ist er genauso tot, wie dein kleiner Freund.”
Noah erstarrte. Timo tot?
Der Mann in seinem Ohr lachte. „Hast du geglaubt, wir kriegen das nicht mit? Du bist nicht der Einzige, der Lippen lesen kann.”
Noahs Augen füllten sich mit Tränen. Am liebsten hätte er vor Schmerz, Trauer, Wut und Enttäuschung laut losgeschrieen. Erst Ma, jetzt der arme Timo. Hoffentlich hatte der Kleine nicht leiden müssen. Diese verdammten Wichser. Seine Hände ballten sich zu Fäusten. Er zitterte.
Der Taxifahrer musterte ihn nachdenklich. „Du siehst aus, als wäre jemand gestorben.”
Noah nickte und zwang die Tränen zurück. „Meine Mutter!”
„Oh... tut mir sehr leid”, antwortete der Mann peinlich berührt. „Ich wollte nicht...”
Noah wandte sich wortlos ab.
Der Fahrer zog ein schuldbewusstes Gesicht und konzentrierte sich wieder auf die Straße.
Noah wischte sich mit dem Handrücken über die Augen.
Obwohl es draußen so heiß war, wurde ihm plötzlich kalt.
Er schüttelte sich.

*

Es war still geworden. Die Killer waren fort.
Timo schlug die Augen auf. Sein Kopf dröhnte.
Es war dunkel um ihn herum und ein fauliger, gärender Geruch stieg ihm in die Nase. Durch den schmalen Spalt des Müllcontainers drang nur wenig Licht. Diese Typen hatten ihn weggeworfen wie Abfall, diese Schweine. Aber noch lebte er. Der Gestank war unerträglich. Aber noch viel schlimmer war der unerträgliche Schmerz in seinem Rücken. Zitternd schob er das Fahrrad ein Stück von sich und versuchte verzweifelt, den Containerdeckel weiter zu öffnen. Er musste hier raus. Raus, bevor er verblutete.
Raus, bevor er niemanden mehr sagen konnte, was er wusste. Verzweifelt rüttelte er am Containerdeckel. Aber ihm fehlte die Kraft. Panik stieg in ihm hoch. Er wollte noch nicht sterben. Nicht jetzt. Nicht hier. Er versuchte wieder den Deckel weiter zu öffnen. Aber seine rechte Schulter schmerzte so wahnsinnig, so das er nur den linken Arm benutzen konnte, in dem er eh nicht soviel Kraft hatte.
„Hilfe!“, versuchte er zu schreien. „Helft mir!“ Aber auch seine Stimme war kraftlos und dünn.
Timo bezweifelte, das ihn überhaupt jemand hörte.
„Scheiße! Verdammte Scheiße! Scheiße, Scheiße, scheiße!“ Sein Atem ging schnell. Aber vielleicht... Er langte in die Hosentasche. Auf seinem Gesicht erschien ein mattes Lächeln. Seine Trillerpfeife. Er hatte sie dabei.
Zittrig steckte er die Pfeife zwischen die Lippen und blies so fest er konnte. Wieder und wieder.
Niemand kam. Langsam ging ihm die Luft aus. Noch einmal versuchte er es.
Ein Hund bellte. Timo horchte auf. Wenn der Hund mit seinem Herrchen unterwegs war... Er pfiff erneut. Aufgeregt bellend näherte sich der Hund.
„Ina!“, rief eine alte Frauenstimme. Doch der Hund sprang am Container hoch, kläffte lauter denn je.
„Ina, was machst du denn da? Komm zu Frauchen, du ungezogener...“
Dann sah sie den Kinderarm aus dem Container greifen.
„Hilfe!“, rief Timo angestrengt. „Bitte.. helfen Sie mir.“
Sie schrie erschrocken auf.
Timo hörte, wie sie eilig näher kam. Mit einer Kraft, die er der alten Frau nie zugetraut hätte, riss sie den Deckel auf und starrte ihn fassungslos an. „Großer Gott, ein Kind! Wer hat dir das angetan?“
Timo versuchte sich blutüberströmt über den Containerrand zu schieben. Die Frau half ihm dabei. Kraftlos rutschte er hinunter, fiel der Frau in die Arme, die ihn nur mit Mühe auffangen konnte. Er brach in ihren Armen zusammen.
„Sie haben auf mich geschossen.“
„Mein armer Kleiner, beweg´ dich nicht. Bleib ganz ruhig liegen. Ich hole sofort Hilfe.“
Aufgeregt kreischend lief sie auf die Hauptstraße: „Polizei! Ein Kind ist angeschossen worden. Ruft den Notarzt. Er verblutet!“
Stöhnend und unter enormen Schmerzen gelang es Timo sich am Müllcontainer hochzuziehen. Wackelig, mit enormer Kraftanstrengung, richtete er sich auf. Er pausierte, um zu Atem zu kommen, dann stolperte er der alten Frau auf die Hauptstraße nach.
Das Blut quoll unaufhörlich aus seinem Rücken hervor.
Er rannte wie wild, aus Angst zu verbluten. In seinen Ohren hörte er ein Surren und seine Beine fühlten sich an, wie aus Holz, als gehörten sie jemand anderem. Er konnte nicht rennen. Er glaubte nur zu rennen. Seine Beine wollten sich nicht bewegen, doch er musste weiterlaufen. Er kniete nieder, versuchte zu kriechen. „Ich muss Noah helfen... Jemand muss erfahren...“, murmelte er. Sein Blut hatte eine Spur hinter ihm gebildet.
„Was machst du denn da?“ erklang die besorgte Stimme der Alten. „Bleib doch liegen und streng dich nicht so an.“
Der Rat kam zu spät. Timo fiel seitwärts aufs Pflaster.
Das Surren in seinen Ohren wurde zu einem Brausen. Das Pflaster unter seinem Gesicht fühlte sich rau, aber beruhigend an. Er drückte sich gegen den Boden und wusste, er konnte nicht tiefer fallen.
Die Stimme der Alten vermischte sich mit dem Brausen in seinen Ohren. Alles war wie ein Traum. Über ihm bewegte sich etwas ganz langsam, ein Mann sagte, er sei Arzt und drehte ihn auf den Bauch. Timo antwortete, aber seine Zunge war wie geschwollen. Wie die Zunge von jemand anderem. Dann verlor er das Bewusstsein.


Fortsetzung folgt... ( Bei Interesse )
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