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 Elfenfeuer

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Tristan Aurel

Tristan Aurel


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BeitragThema: Elfenfeuer   Elfenfeuer EmptyDi Jan 18, 2011 8:05 pm

Anmerkung des Autors: Naja, es handelt sich nicht wirklich um DARK Fantasy, dafür ist der Humor ziemlich DARK. Und eine andere Kategorie gibt es ja leider nicht. Hoffe, das ist okay.

Ich habe die spätmittelalterliche Sprache absichtlich nicht authentisch nachgebildet, da sie angesichts heutiger Lesegewohnheiten zu steif und künstlich anmutet. Dadurch würde sie den Zugang zum Text nur unnötig erschweren. Ich bitte die wahren Sprachpuristen unter den Lesern daher um ihr Verständnis.



1.

Nuyss (Neuss) 1475
Spätmittelalter

Die schiefen, ein- oder zweistöckigen Häuser ragten düster zu beiden Seiten der kleinen, gewundenen Gasse auf, in welche gerade zwei ungleiche Gestalten einbogen.
Ratten huschten vor den eilig voranschreitenden Füßen davon. Feyd, ein rundlicher kleiner Glatzkopf mit dünnen Beinen, spie angewidert aus. Er hasste diese Viecher, die in letzter Zeit immer dreister wurden. Ein plötzliches, schrilles Miauen ließ ihn zusammenfahren. Er schüttelte sich, verursachte es ihm doch jedes Mal Gänsehaut, wenn sich Katzen wie schreiende Babys anhörten.
Als sie das letzte Haus der Gasse erreichten, wurde Feyd langsamer und deutete seinem Begleiter zu warten, der sich sofort in den Schatten eines Mauervorsprungs presste. Ein selbstzufriedenes Grinsen trat in sein feistes Gesicht, als er um die Häuserecke blickte: „Dort ist der Junge, den ihr sucht, Herr!“ Die angesprochene, in einen dunklen Kapuzenumhang gehüllte Gestalt trat aus dem Dunkel des Mauerschattens. Sie war außergewöhnlich hochgewachsen und ihre Bewegungen hatten etwas Schroffes, Ruckartiges. Mit einer Kraft, die man ihr nicht zugetraut hätte, schob sie mühelos ihren gewichtigen Handlanger wie einen lästigen Köter beiseite. Dann lugte auch sie vorsichtig um die Ecke. Ihr Blick fiel auf eine Gruppe zerlumpter Kinder, die auf dem Freithoff beinahe andächtig den Worten eines alten Geschichtenerzählers lauschten, den sie im Halbkreis umlagerten. Für einen halben Weißpfennig erzählte der kleine schmale Mann mit der ergrauten, bis zur Schulter fallenden, wirren Haarmähne und den tiefliegenden Augen von fernen Gegenden, wunderbaren Wesen und großen Helden. Die Kinder ließen sich von ihm nur allzu gerne ins Reich der Abenteuer entführen, vergaßen sie doch so - zumindest für einige Augenblicke - die nunmehr fast zwölf Monate andauernde, äußerst kräftezehrende Belagerung ihrer Stadt. Mit großen, leuchtenden Augen und staunend geöffneten Mündern sogen sie die samtenen Worte des Alten wie köstlichen Nektar auf.
„Seht ihr ihn, Herr?“ Feyd deutete auf einen etwa dreizehnjährigen, fremdländisch aussehenden Jungen im Lederharnisch. „Ganz hinten links. Der etwas von den anderen verdeckt wird...“
„Er scheint völlig versunken in den Erlebnissen des tapferen Römer Quirinus“, stellte die vermummte Gestalt mit eigenartig zischender Flüsterstimme fest. Sie erschien Feyd weder hart noch weich, nur einfach kalt, unmenschlich. „Völlig versunken...”
Zumindest genug, um nicht diesen unheimlichen Kerl zu bemerken, der ihn aus der Schwärze seiner Kapuze mit dem selben Interesse betrachtet, wie ein Raubtier seine Beute, dachte sich Feyd und schauderte. „Ihr könnt von hier aus hören, worüber der Alte erzählt? Meinen Respekt, Herr!“ „Bei mir sind eben nicht nur Verstand und Umgangsformen ausgeprägter... Bist du auch ganz sicher, dass ein Irrtum ausgeschlossen ist? Ein Fehler wäre unverzeihlich. Er muss der Richtige sein.“
Feyd zog ein übertrieben empörtes Gesicht. „Bei meiner Ehre...“ „Sieh an, so was besitzt eine Ratte wie du? Du warst einmal ein angesehener Gastwirt, nun wirst du für klingende Münze zum Verräter am eigenen Volk, verdingst dich für schmutzige Handlangerdienste. Wahrlich, ein echter Ehrenmann!“
„Es sind Kriegszeiten, jeder muss sehen, wo er bleibt!“ entgegnete Feyd verärgert. „Ein guter Ruf macht mich nicht satt. Außerdem habt ihr mich in eure Dienste genommen, weil ich bin, was ich bin.“ Die Kapuze deutete ein Nicken an. „Sei´s drum. Was weißt du über den Jungen?“
„Nun, Herr, er gehört nicht zu den Kindern der Stadt, sondern...“ „Das sehe ich selbst. Ich bezahle dich nicht dafür, dass du mir Sachen erzählst, die offensichtlich sind!“ „Verzeiht, Herr! Er ist vor einigen Tagen mit der neuen Söldnertruppe gekommen, die wir durch einen geheimen Zugang in die Stadt gelassen haben.“
„Ein Knabe, der eine Schar Söldner begleitet? Sehr ungewöhnlich...“ „Verzeiht, aber das ist es eigentlich nicht“, widersprach Feyd, selbst von seinem Mut überrascht. „Es kommt öfter vor, das Söldnertruppen von einem Knaben begleitet werden, dessen Aufgabe es ist, die Befehle des Anführers zu trommeln. Ungewöhnlich wird es erst dadurch, dass dieser Junge alles andere als ein Trommler ist. Wieso sonst führt er anstelle des Instrumentes ein Schwert mit?“ „Kann er denn damit umgehen?“
Feyd nickte. „Meisterhaft, Herr. Ich wurde gestern in den frühen Morgenstunden selbst Zeuge seiner Kampfkunst, als er mit den anderen Söldnern trainierte.“
„Kunst?“ Die flüsternde Stimme nahm einen verärgerten und sehr bedrohlichen Tonfall an. „Willst du mich hochnehmen?“
Feyd schluckte ängstlich und rieb sich nervös über die Glatze, die im Licht der Morgensonne wie poliert glänzte. Sein feistes Gesicht war vor Aufregung wie vom Fieber gerötet. „Ich kann euch sofort eine Handvoll Zeugen holen, wenn ihr es wünscht, Herr. Bei meiner Seele, nie sah ich jemanden so kämpfen. Er ist unfassbar schnell, sehr wendig - und äußerst kräftig.“ Er spürte, wie sein unheimlicher Auftraggeber ihn aus der Dunkelheit seiner Kapuze durchdringend anstarrte. „Er konnte sich tatsächlich gegen einen erfahrenen Söldner behaupten? Hm, vielleicht habe ich ihn doch unterschätzt.“
„Herr, ich spreche nicht von einem Söldner ...“ Feyd schüttelte den Kopf und schnaufte vor Aufregung. „Dieser Knabe kämpfte mit fünfen! Gleichzeitig!“
„Und wie viele der Söldner bezwang er?“
„Alle!“
„Langsam beginne ich zu begreifen, wieso er ihr so wichtig ist...“
„Was meint ihr, Herr?“ platzte Feyd neugierig heraus und hätte sich dafür im nächsten Moment am liebsten selbst geschlagen.
„Zerbrich dir darüber nicht deinen fetten Kopf.“ Er gluckste. „Jetzt wundert mich nicht mehr, dass die anderen Söldner ihn nicht als Kind, sondern als Gleichen behandeln.“
Er lächelte eisig. „Und doch ist er eins. Sieh ihn dir an. Gebannt von den Worten eines alten Narren.“
Ein Strahl der langsam höhersteigenden Sonne traf auf seine Kapuze und erhellte für einen kurzen Augenblick das in ihr verborgene Gesicht. So entging Feyd nicht das unangenehme Lächeln auf dem nur entfernt menschlich wirkenden Gesicht. In der nächsten Sekunde verwandelte es sich in ein gehässiges, groteskes Grinsen, welches drei Reihen langer, rasiermesserscharfer Spitzzähne entblößte. Dort, wo bei jedem Menschen der Gaumen begann, befanden sich dicht hintereinander zwei weitere Reihen dieser furchteinflößenden, haiartigen Zahnreihen.
Sie reichten von einem Ohr zum anderen, beinahe, als könne er einer Schlange gleich, den Unterkiefer aushängen. Feyd erschauderte. Wahrscheinlich konnte sein Gegenüber das Maul weit genug öffnen, um einen Menschen in einem Stück zu verschlingen. Zum Beispiel ihn. Ein ganz unbehagliches Gefühl überkam Feyd.
Ein kräftiges Kerlchen wie er stellte sicher eine vielversprechende Mahlzeit dar. Plötzlich wollte er nur noch weg von hier. Weit weg von diesem schrecklichen Was-auch-immer-Wesen.
„Doch nun zu dir...“ Die Stimme des Vermummten ließ ihn schreckhaft zusammenzucken. Dabei griff dieser bloß in die Tasche seines Mantels um mit dürren, wächsernen Fingern ein kleines Lederbeutelchen hervor zu holen. „Hier, wie abgemacht! Gute Arbeit, mein verräterischer Freund", lobte er und warf es Feyd zu. Ein geräuschvolles Klimpern ertönte, als die dicken Finger des einstigen Gastwirtes das Beutelchen gierig auffingen. Feyd grinste zufrieden, sichtlich erleichtert, endlich verschwinden zu können. „Danke, Herr“, verneigte er sich ehrfürchtig. „Es war mir ein Vergnügen für euch...“ Er keuchte erschrocken, als aus dem Geldbeutel seltsame, tentakelartige Ärmchen herausschnellten. Blitzartig wanden sie sich um sein Handgelenk, wanderten den Arm weiter rauf und wickelten sich um die Schulter. „Was zum...“ Die Ärmchen klinkten Tausende winziger, scharfblitzender Krallen aus, die sich im selben Moment in Feyds Körper schlugen. „Elender Judas!“ erklang die zischende Stimme hämisch. „Dachtest du wirklich, ich würde Zeugen zurücklassen?“
Feyds Körper veränderte sich, wurde erst gräulich, dann seltsam durchsichtig, irgendwie geleeartig. Schließlich zerplatzte er in einem dumpfen „Pfootsch!“ und fiel als Wassermasse in sich zusammen. Platschend klatschte das Wasser zu Boden, wo es sich mit dem Dreck der Straße vermischte. Der Kapuzenmann lächelte und hob den Beutel behutsam wieder auf, in dem die seltsamen Gebilde genauso schnell wieder verschwanden, wie sie erschienen waren. Dann ließ er ihn wieder in seine Manteltasche gleiten, bevor er sich erneut dem Jungen zuwandte. „Es wird noch viel einfacher, als ich dachte, mit diesem...Kind!“ Er lachte abfällig und trat ins Dunkel zurück. Nun, wo der Junge den bannenden Worten des Wolfgang von Weimar lauschte, den alle nur „Wolf“ riefen, war er genauso ein Kind wie alle anderen und würde gar nicht weiter darauf achten, was um ihn herum geschah.

*
Der Junge lächelte verträumt. Er hörte die Quirinus - Geschichte immer wieder gerne, obwohl er sie inzwischen auswendig kannte. Aber niemand erzählte sie so, wie Wolf. Es war die lebendige Art des Alten, die sie erneut wieder zum Erlebnis werden ließ. Ganz besonders liebte er jedoch Wolfs Mondmärchen, Geschichten von geheimnisvollen Ländern voller Feen, Kobolden und anderen mythischen Gestalten. Sie erinnerten ihn an Zuhause...
Eine nachtschwarze Rabenkrähe flog laut krächzend von der Münsterkirche hoch. Ihr durchdringendes „Kirr! Kirr!“ ließ ihn reflexartig zu sich aufsehen und holte ihn so für einen kurzen Moment aus seiner Konzentration. Doch bereits im nächsten Augenblick wandte er sich gleichgültig wieder dem Geschichtenerzähler zu.

*
Er würde seinen Auftrag erfüllen und den Jungen töten, schnell und lautlos. Dann konnte er endlich wieder seine wahre Gestalt annehmen und sich dieser beengenden, menschenähnlichen Hülle entledigen. Vor allem aber stand er damit in Aztaroths Schuld. Und sie durfte ihm keinen Wunsch verwehren... Seine Zunge fuhr über die schmalen, blutleeren Lippen. Er würde ihr den Kopf mitbringen, als Beweis. Das würde reichen. Er langte erneut in die Manteltasche, zog ein langes, dünnes Holzblasrohr hervor und hielt es sich an die Lippen. Der Junge war ein einfaches Ziel. Es war unmöglich ihn zu verfehlen.
Der vergiftete Dorn würde in seinen Nacken eindringen und das Pflanzengift freisetzen, das sich sofort den Weg zum Gehirn suchen würde. Auch einer der Gründe, warum der Kopf für Aztaroth war. Das Gift verdarb schließlich den feinen Geschmack. Sollte sie ihn sich doch in eine ihrer Glasvitrinen stellen, neben all den anderen Köpfen besiegter Feinde. Er gab sich mit dem Rest zufrieden, den er als delikaten Spieß zubereiten, würzen und über dem Feuer braten würde. Niemanden interessierte, was mit dem Körper geschah und ihm würde ein junger, drahtiger Knabe sicher hervorragend schmecken. Jung, saftig und ohne Fett. Mal was anderes als die halb verhungerten, kränklichen Leichen der Schlachtfelder oder die fetten, gut abgehangenen Alten... Doch was sollte er dabei trinken? Gut, das konnte er sich ja noch in Ruhe überlegen, nachdem... Moment! Wo war der köstliche Bursche plötzlich? Er saß nicht mehr an der Stelle, wo er noch Sekunden zuvor gewesen war. Aber wie...
„Du atmest zu laut, Manticor!"
Als er begriff, war es zu spät. Er schnellte herum, doch das letzte, was er sah, war das belustigte Lächeln des Jungen, bevor dessen rasiermesserscharfe Schwertklinge wuchtvoll auf ihn nieder raste und genau in der Mitte durchhieb. Schwarzgrünes Blut spritzte und gräuliche Innereien plätscherten zu Boden..
„Dämonen.“ Der Junge spuckte verächtlich aus. „So viele Arten gibt es und alle fallen auf dieselben Tricks rein...“
Die beiden Körperhälften verwandelten sich für einen kurzen Moment noch in ihre eigentliche Gestalt zurück, die aus einem löwenartigen Körper mit rotem Fell bestand, der in einen kräftigen, skorpionähnlichen Schwanz endete. Noch ehe sie den Boden berührten, entzündeten sie sich und vergingen sekundenschnell in extrem heißen Feuer. Nur grauweiße Asche blieb zurück.
Der Junge blickte gen Himmel und streckte einen Arm in die Luft. Krächzend kam die Rabenkrähe von vorhin angeflogen und ließ sich darauf nieder. Es war ein großer Vogel, von etwa sechshundert Gramm, der vom Kopf bis zu den Schwanzfedern knapp einen halben Meter maß.
Das schwarze Gefieder hatte einen leicht metallenen, bläulichen Glanz. „Frenya.“ Er lächelte den Vogel an und küsste ihn leicht auf den nach vorn gebogenen, ebenfalls schwarzen Oberschnabel. „Was würde ich nur ohne dich tun, mein treuer Schutzgeist? Du bist mir Auge und Ohr, damals wie heute.“ Die Krähe blickte ihn zutraulich an und rieb mit ihrem Kopf beinahe liebevoll über seinen Arm. Dann faltete sie die Flügel auseinander und erhob sich mit einigen kräftigen Schlägen erneut in die Luft. Mit einem seltsam melancholischen Blick sah der Junge dem schwarzen Vogel hinterher, der sehr gleichmäßig, mit kräftigem Auf - und Abbewegen der Flügel immer höher stieg, um sich schließlich wieder ganz oben auf der Spitze der Münsterkuppel niederzulassen, von wo aus man alles überblicken konnte.

*
Der Geschichtenerzähler strich sich über den struppigen Vollbart und blickte zufrieden in die Runde seiner Zuhörer. Wieder einmal erzielten seine klaren, akzentuierten Worte die erwünschte Wirkung. Selbst nach all den Jahren hatte er nicht verlernt, seine Zuhörer mit Worten zu fesseln, wie andere mit Seilen. Als sein prüfender Blick auf den Söldnerjungen fiel, der sich offenbar gerade wieder auf seinen Platz setzte, unterbrach er sich irritiert. Er hatte gar nicht bemerkt, dass der Junge fort gewesen war.
Im Gegenteil, er hätte geschworen, ihn die ganze Zeit dort... Wolf hielt erstarrt inne. Erst jetzt erblickte er das Gesicht des Jungen zur Gänze, der ihn gerade voll ansah. Das ausgemergelte, faltige Gesicht des Mannes spiegelte erst Wiedererkennen, dann Ungläubigkeit, schließlich Freude wieder. Er hatte inzwischen so lange auf seine Rückkehr gewartet, dass er es nun gar nicht fassen konnte. Er konnte jetzt unmöglich weitererzählen, es gab wichtigeres zu tun. „Und wie so oft“, ergriff er sichtlich gelöst wieder das Wort, „gilt auch heute: Wenn es am spannendsten ist, soll man aufhören.“
Die Blicke der Kinder hingen noch ein paar Augenblicke an seinen Lippen, doch als Wolfgang aufstand, ging ein Seufzen der Enttäuschung durch die Reihen seiner Zuhörer. Der alte Mann hob einen dürren Finger. „Kommt morgen früh wieder, dann erzähle ich euch, wie es Quirinus in der Hand des Feindes weiter erging!“ Damit raffte er sein Gewand zusammen und humpelte auf den Jungen zu, während die anderen Kinder wieder weiterzogen und sich über dem Marktplatz verteilten. „Was ich damals ahnte, ist mir nun Gewissheit!“ sprach er gerade laut genug, damit der Junge ihn verstehen konnte. „Du bist kein gewöhnlicher Knabe. Die Frage ist nun, was bist du?“
Der Junge wirkte ehrlich überrascht. „Nach all den Jahren erinnerst du dich noch an mich? Erstaunlich, es muss doch schon...“
„...ein ganzes Leben lang her sein.“ Wolfgang nickte und in seinen schiefblickenden Augen blitzten Tränen, als dächte er an längst vergangene Zeiten. „Damals zählte ich noch keine zehn Sommer, war erst ein Jahr zuvor mit meiner Familie aus Weimar hierher gezogen. Nun bin ein alter, gebrechlicher Mann. Aber an dir hat die Zeit keine Spuren hinterlassen. Du siehst keinen Tag älter aus, als damals.“ Mit zittrigen Fingern schob er das wallende, schwarze Langhaar des Jungen über die Ohren zurück. Sie waren spitz zulaufend. „Ich wusste es. Ich habe es immer gewusst.“
„Es gibt keinen Grund für dich, mich zu fürchten“, sagte der Junge und strich das Haar wieder zurück, bevor andere, unerwünschte Blicke seine Ohren sahen. „Fürchten?“ Wolfgang lachte. „Nicht doch, meine alten Augen freuen sich, dich wiederzusehen.Ich weiß nicht, ob du ein Engel bist, aber eines ganz sicher: ein Teufel bist du nicht!
Du hast mir damals das Leben gerettet. Und das meiner Familie. Ich habe dir nie dafür danken können. Dir verdanke ich ein langes Leben. Ein gutes Leben. Wie könnte ich da fürchten?“ Er lächelte und für den Bruchteil einer Sekunde entdeckte der Junge das Gesicht des Zehnjährigen, den er einst gekannt hatte, hinter all den Falten wieder. „Ich wusste, du würdest irgendwann zurückkehren. Was glaubst du, warum ich niemals aus Nuyss fortgezogen bin? Aber warum gerade jetzt? Sag mir, mein außergewöhnlicher Freund, was führt dich nach so langer Zeit wieder nach Nuyss? Du hättest dir keinen schlechteren Zeitpunkt wählen können.“
„Ich weiß, deshalb bin ich hier. Ich sah die Pharaonen stürzen, Karthago in Flammen und Troja fallen. Aber Nuyss wird nicht untergehen. Dafür werde ich kämpfen.“
„Und das kannst du wie kein Zweiter. Ich habe in all den Jahren nie wieder jemanden so kämpfen sehen, wie dich. Weder Knabe, Mann, noch Krieger.“ Der Mann verzog sein runzliges Gesicht zu einem Lächeln. „Deine Rückkehr gibt mir Hoffnung. Dann ist es also wahr, was meine Mutter damals sagte: Du bist der wahre Schutzpatron dieser Stadt.“ „Sagen wir, es gibt Ereignisse in meinem Leben, die mich für immer mit dieser Stadt verbinden.“
„Bitte, nenn mir deinen Namen.“
„Man nennt mich Kimura.“
„Was für ein seltsamer Name.“Der alte Mann wiegte bedächtig den Kopf hin und her. „Du musst von weit her kommen.“
„Du ahnst nicht, wie weit“.
„Hast du vielleicht Durst? Ich muss jedenfalls jetzt meine Kehle spülen. Sie ist schon ganz rau, vom vielen Erzählen. Komm, ich lad dich auf einen halben Krug ein, dann können wir in Ruhe bereden.“
Frenya, die Rabenkrähe, flog aufgeregt krächzend von der Spitze der Münsterkuppel hoch.
„Sag mir, ewiger Junge, wie gedenkst du weiter vorzugehen?“
Kimura antwortete nicht. Auch er hörte, was den Vogel hatte aufschrecken lassen: Das Geräusch nahender Pfeile. Viel zu entfernt für menschliche Ohren, doch in seinen Elfenohren so laut, als würde man mit Fingernägeln über eine Schieferplatte kratzen. „Du solltest lieber in Deckung gehen, alter Mann!“ Dann fuhr er herum, laut schreiend die Stille des frühen morgens durchdringend: „AAAALAAAARM! Pfeilhagel! Zu den Waffen! Sie greifen an!“ Der alte Mann blickte in den Himmel, konnte aber nicht einen Pfeil ausmachen. „Was? Bist du sicher?“
„Geh endlich in Deckung, du Narr!“
„Ich weiß nicht, was du vorhast, aber das letzte, was diese Menschen hier gebrauchen können, ist ein falscher Alaaaaaarrrrgggghhhh!“ Blut spritzte aus Wolfgangs Mund, als ihn ein Pfeil von schräg oben die Schulterblätter durchbohrte, und seine Lunge durchschlug. Ungläubig starrte der Alte auf die brennende Pfeilspitze, die gute fünfzehn Zentimeter aus seiner Brust herausragte.
Einen seltsamen Laut ausstoßend, kippte er zu Boden. Kimura eilte herbei, beugte sich über ihn. „Wolf! Wolf?“
Geräuschvoll flatternd ließ sich Frenya neben dem knienden Kimura nieder und blickte seltsam anteilnehmend zwischen ihrem jungen Herrn und dem Sterbenden hin und her. Noch lebte Wolfgang, aber es waren seine letzten Momente. Dennoch war ihm genug Kraft geblieben, um Kimuras Hand zu drücken, als er sich zu ihm niederkniete. Sein Mund bewegte sich, und Kimura musste ganz genau zuhören um seine letzten, blutig herausgehusteten Wörtern zu verstehen: „Du musst...die Zeichnungen...zuhause...finde Tibor...“ Er hustete ein letztes Mal, dann war er tot.
Kimura senkte den Kopf. „ Ruhe in Frieden, alter Freund.“
„Der Geschichtenerzähler ist tot!“ schrie ein kleines Mädchen in einem rötlichen Kleid aufgeregt und weinte. „Wolf ist tot!“
„Was?“ ertönte die enttäuschte Stimme eines hinzueilenden Jungen. „Aber ich wollte doch wissen, wie es mit Quirinus ausging.“
„Er wurde gefoltert und für seinen Glauben ans Kreuz geschlagen“, antwortete Kimura knapp und strich mit der Hand über die starren, offenen Augen des Alten, um sie so zu schließen. „Und seiner Tochter erging es ebenso.“
„Das ist ein dummes Ende.“ Der Kleine verzog enttäuscht das Gesicht.
Kimura nickte. „Mag sein. Aber es ist wahr.“ Der Junge sah zu seiner Schwester rüber, die neben dem toten Geschichtenerzähler kniete und diesem traurig über den Kopf strich. Er spürte, wie sich ein Kloß in seiner Kehle bildete, den er nur schwer schlucken konnte. „Ist es auch wahr, was der alte Mann über dich sagte?“ wandte er sich mit feuchten Augen wieder an Kimura. „Wirst du unsere Stadt retten?“
„Was steht ihr zwei hier noch rum? Geht endlich in Deckung, oder soll es euch ebenso ergehen, wie dem Alten?“
„Wir sind Geschwister. Bitte, Söldnerjunge, wir wollen bei dir bleiben!“ „Versteckt euch in einem der Hauseingänge und wartet, bis der Pfeilhagel vorbei ist!“ Kimura schüttelte verständnislos den Kopf. „Ich werde nie verstehen, warum man euch Kinder nicht bereits zu Beginn der Belagerung aus der Stadt geschafft hat!“ „Aber wir sind ganz alleine!“ versuchte der Junge es weiter. „Unsere Eltern sind schon vor Wochen gefallen.“ „Es ist Krieg!“ antworte der Elf nüchtern und schritt an den beiden vorbei, ohne sie anzusehen. „Menschen sterben nun mal im Krieg. Mein Weg ist nicht der eure! Ich habe keine Zeit für Kinder. Verschwindet.“
Der Junge blickte Kimura mit verzweifelter Enttäuschung nach. Sein Körper zuckte, als wollte er dem Söldnerjungen spontan nachsetzen. Stattdessen riss er sich zusammen, sah traurig seine jüngere Schwester an und nahm sie bei der Hand. „Komm! Hier können wir nicht bleiben. Wir müssen in einen Hauseingang.“ Eilig liefen die beiden über den Münsterplatz davon. Die Krähe, die inzwischen hochgeflattert war und auf Kimuras Schulter Platz genommen hatte, krächzte ein verstimmtes “Krah, krah” und pickte mit dem Schnabel nach dem Ohr des Elfenjungen.
„Ich weiß, es ist hart, Frenya“, sagte Kimura mit leiser, besänftigender Stimme, „aber wir können nun mal nicht alle retten. Vergiss nicht unsere Bestimmung.“
Die Krähe drehte den Kopf nach den Kindern, die inzwischen fast ihrem Sichtfeld entschwunden waren. Dann blickte sie wieder nach vorne. Ihre schwarzen Augen glänzten. Kimura sah ihnen nicht mehr nach. Seine Gedanken kreisten längst um die letzten Worte des Alten.
Von welchen Zeichnungen hatte Wolfgang gesprochen? Wie wichtig waren sie für einen Elfenjungen, das ihnen die mühevoll ausgespuckten, letzten Worte des sterbenden Geschichtenerzählers gehörten?
Ein neuer Schwarm Feuerpfeile pfiff heran. Frenya flatterte auf und Kimura rannte los. Wo man hinsah, lagen Menschen in ihrem Blut, die Pfeile machten keinen Unterschied zwischen Erwachsenen und Kindern. Viele der angrenzenden Häuser brannten lichterloh. Das knackende Prasseln des Feuers war zu hören. Ein Mann schrie gellend auf, als seine Kleider und Haare Feuer fingen, andere liefen wie lebende Fackeln umher. Rauch und Flammen verbreiteten sich rasend schnell, und Panik brach unter den Menschen aus. Kimura lief schneller, mit großer und zuweilen tänzerischer Geschicklichkeit den herabsurrenden Pfeilen ausweichend. Frenya flog voran, schien ihm den Weg zu weisen. Immer mehr brennende Pfeile folgten und lösten damit neue Brände aus. Ein Pfeil fuhr direkt neben Kimura in den Boden, der instinktiv zur Seite sprang und dabei von einem anderen Flüchtenden angerempelt und zu Boden geworfen wurde. Füße liefen achtlos an ihm vorbei, hätten ihn glatt niedergetrampelt, wenn er sich nicht geistesgegenwärtig seitwärts gerollt hätte. Ein Körper sank neben ihm zu Boden. Schnell richtete sich der Elfenjunge wieder auf und blickte in den Himmel. Vorerst waren keine weiteren Brandpfeile auszumachen. Kimura atmete beruhigt durch und blickte sich um. Die Menschen liefen in Panik durcheinander. Wassereimer wurden hastig über Seilzüge transportiert und wohin sie nicht reichten, wurden sie von Hand zu Hand über Menschenketten weitergegeben. Überall rundherum war dicker schwarzer Rauch. Der Atem stach in der Brust. Kimura hustete. Plötzlich drang Schlachtenlärm an seine Ohren. Er blickte über seine Schulter zur Stadtmauer. Das Burgunderheer versuchte mal wieder eines der Stadttore zu stürmen. Doch die Nuysser Besatzer hieben von oben auf die Angreifer ein, die mithilfe von Leitern die Mauern zu erstürmen suchten. Stahl klirrte, Männer schrieen, Pferde wieherten. Schwarzer Rauch stieg in den vom Feuer blutrot gefärbten Morgenhimmel hinauf. Alle Geräusche vereinigten sich zu einer Symphonie von Gewalt und Tod. Frauen und Kinder eilten herbei, die Wälle hinter dem Stadttor zu festigen. Die Umrisse der erbittert kämpfenden Männer zeichneten sich gegen den dunklen Himmel, die Rauchfahnen und den Schein des Feuers ab. Für einen kurzen Augenblick zuckte es in Kimuras Fingern, das Schwert zu ergreifen und den Nuyssern einmal mehr beizustehen. Doch eine innere Stimme mahnte ihn. Er hatte einen wichtigeren Auftrag zu erfüllen.
„Bitte!“, schrie eine Jungenstimme panisch hinter ihm. „Bitte, junger Herr. Lasst mich hier raus!“
Einige Meter vor dem Münster stand ein barfüßiger, zerlumpter Junge am Pranger. Eine Tatsache, die zu anderen Zeiten sicher eine ganze Traube Menschen angelockt hätte, die sich fröhlich am Unglück des bestraften Jungen ergötzte. Man hätte ihn beschimpft, bespuckt, geprügelt oder lachend mit faulen Eiern, matschigem Obst und Gemüse beworfen. Sicher auch mit festen Gegenständen, wäre es erlaubt gewesen. Doch in Zeiten wie diesen war kein Essen da, das man hätte werfen können. In Zeiten wie diesen rannten sie um ihr Leben, versuchten verzweifelt, sich vor dem Regen aus Brandpfeilen in Sicherheit zu bringen. Der angeprangerte Junge rief erneut. Das Strafwerkzeug, in dem er sich befand, bestand aus zwei parallel angeordneten, massiven Brettern, die durch Scharniere miteinander verbunden und am Ende eines starken Pfahles angebracht waren. Dieser ragte aus einer begehbaren, hölzernen Plattform heraus. In beiden Brettern waren Aussparungen für den Hals und links und rechts davon, für die Handgelenke. Die geschlossenen Bretter fesselten den Knaben deshalb unnachgiebig um Hals und Hände. Es war ihm unmöglich ohne Hilfe dort wieder herauszukommen. Und genau dieser Umstand ließ ihn nun angsterfüllt nach Hilfe schreien, war das breite Holzpodest doch offensichtlich von den Pfeilen in Brand gesetzt worden. Der Kopf des Jungen ruckte unruhig hin und her und seine dünnen, mit blauen Flecken übersäten Arme fuchtelten hilflos. Auf dem linken Unterarm hatte man ihm das etwa sieben Zentimeter große Zeichen eines Fuchses eingebrannt. Die Haut darum war stark gerötet und geschwollen, dieses Brandzeichen war ihm erst vor kurzem beigebracht worden. Von seinem eingefallenen Gesicht tropfte Schlamm, mit dem er beworfen worden war. „Lasst mich um Himmels Willen nicht lebendig verbrennen!“ „Du verdienst nichts anderes, du Sohn von tausend Huren!“ schrie ein hochgewachsener, älterer Junge mit schmutzigblondem, verfilzten Haar und hasserfüllter Stimme. „Elender Bastard! Abfackeln sollst du!“
„Und dich soll der Blitz beim Scheißen treffen!“, schrie der gefangene Junge zurück, panisch auf die immer größer werdenden Flammen des Podestes starrend. „Matheis, du elender Mistkerl! Wenn du ein echter Mann wärst, würdest du mich selber töten und nicht den Flammen überlassen!“ „Netter Versuch!“ Matheis grinste wissend. „Nein, ich werde dir keinen schnellen Tod schenken. Ich will doch zusehen, wie die Flammen dich langsam auffressen...“ Er lächelte gehässig. „Ja, ich will dich brennen sehen, Tibor!“
Kimura horchte auf. „Tibor“ - diesen Namen hatte Wolfgang vor seinem Tod genannt. Er grinste. Das Schicksal meinte es heute gut mit ihm. Ein sehr seltener Name in dieser Gegend und die Wahrscheinlichkeit in den Mauern der Stadt auf einen zweiten Namensträger zu treffen, äußerst gering. „Bitte, Herr, hört nicht auf dieses Schandmaul! Ich flehe euch an!“ Blanke Angst schwang in der Stimme des Jungen mit. „Befreit mich, oder tötet mich, aber überlasst mich nicht den Flammen!“ Er hustete hart, denn der beißende, heiße Rauch begann seine Lunge zu reizen.
„Versuch nicht einzuatmen!“, schrie ihm Kimura zu und rannte ohne zu zögern auf den Pranger zu. Das Feuer fraß sich immer mehr in das Podest, wurde größer. Die linke Seite stand schon in hellen Flammen. Der Junge hustete heftiger, seine Augen tränten vom Rauch und er rang nach Luft. Ein Wunder, dass er noch nicht bewusstlos war. Kimura hatte den Jungen fast erreicht, nur noch wenige Meter. Tibor verzerrte vor Schmerzen das Gesicht. Wahrscheinlich hätte er geschrieen, hätte er noch die Luft dazu gehabt. Die Feuerhitze musste inzwischen so stark sein, dass sie ihm die nackte Haut versengte. Auch Kimura spürte die Hitze, und hielt seinen Atem so flach es ging, um die Lungen nicht zu verbrennen. „Haltet ein, Fremder!“ sprang ihm Matheis in den Weg, dem diese Sache offenbar wichtiger war, als seine eigene Haut zu retten. „Ihr wisst nicht, wen ihr da zu befreien gedenkt!“ „Aus dem Weg!“ blaffte Kimura ihn ungehalten an.
Der ältere und um einen ganzen Kopf größere Junge verschränkte entschlossen die Arme und starrte Kimura drohend an. „Niemals!“
Kimura linker Mundwinkel zuckte. Matheis fühlte zwar den Schmerz, hörte auch etwas brechen, aber er begriff erst, das der fremde Junge ihn niedergeschlagen hatte, als er sich mit blutigem, schmerzendem Gesicht auf dem Boden liegend wiederfand. „Meine Nase... Verflucht, sie ist gebrochen!" Tibors Kopf fiel kraftlos zur Seite. Kimura erschrak. Hoffentlich war der Junge nur ohnmächtig.
Er durfte nicht sterben. Nicht bevor er wusste, inwieweit Tibor mit dem Ganzen zu tun hatte. „Finde Tibor!“ - das waren die letzten Worte des Alten gewesen. In irgendeiner Hinsicht konnte der Junge ihm scheinbar weiterhelfen. Doch das würde er nie erfahren wenn er ihn jetzt verlor.
Als er ihn erreichte, hob Tibor zu Kimuras Erleichterung wieder den Kopf, wenn auch stark benommen. Diese Benommenheit schützte ihn im Moment sogar, fühlte er so nicht den Schmerz seiner versengten Haut. Sie war stark gerötet und an seiner rechten Seite bildeten sich bereits winzige Hitzebläschen. „Halt durch, Kleiner. Du bist schon so gut wie frei!“ Mit zwei kurzen, aber harten Hieben seines Schwertes zerschlug er die Scharniere und befreite den bedauernswerten Jungen. Er half ihm vorsichtig heraus. Sofort sackte Tibor völlig erschöpft in die Knie, doch Kimura fing ihn geistesgegenwärtig auf, drehte ihn zu sich und hob ihn über die linke Schulter. Schließlich war der schmächtige Junge weder groß noch schwer. „Ich würde das nicht tun!“ rief Matheis, dessen Nase immer noch blutete. „Hermann von Hessen persönlich ließ ihn dort anprangern. Tibor hat Essen geklaut. Aus den eisernen Notreserven, die für die Kinder und Kranken gedacht sind.“
„Nun, er ist ein Kind. Und hungrig dazu“, antwortete Kimura, mit der linken Hand den kraftlosen, über der Schulter liegenden Jungen haltend. „Und jetzt geh uns aus dem Weg, bevor ich dir mit meinem Schwert den Kopf vom Rumpf schlage!“
„Aber er ist als Dieb bekannt und...“ Matheis verstummte, als sich Kimuras rechte Hand auf den Schwertknauf legte. Mit entschlossenem Gesicht zog er das Schwert ein Stück aus der Lederscheide. Matheis schluckte. Es gab keinen Zweifel daran, dass er seine Drohung wahr machen würde. Missmutig trat der Junge zur Seite. Trotz seiner sichtbaren Angst, fiel es ihm schwer die Befreiung zuzulassen. Seine Augen blickten Kimura in hilfloser Wut an. Der grinste belustigt und zog mit einem Ruck das Schwert ganz. „Das ist der Moment, in dem du laufen solltest!“ Matheis wich ein paar Schritte zurück. Seine Finger zitterten vor mühsam unterdrücktem Zorn.
„Hermann von Hessen war viel zu nachsichtig, ihn nur an den Pranger zu stellen“, sagte er mit einem letzten Blick auf Tibor. „Ich an seiner Stelle hätte ihm die Hände abschlagen lassen, wie es das Gesetz vorsieht.“
„Du an seiner Stelle?“ Kimura lachte höhnisch. „ Dann wäre Nuyss schon längst gefallen!“
„Wir sehen uns wieder!“ versprach Matheis mit bebender Stimme, bevor er sich umdrehte und fortging.
Tibor stöhnte leise. Kimura legte ihn auf die kalten Kopfsteine nieder. Der Junge hatte schmerzhafte Brandrötungen, wie nach einem extrem starken Sonnenbrand. Der Elf blickte sich kurz um, niemand schien sie zu beachten. Im Moment hatte jeder genug damit zu tun, sein eigenes Leben in Sicherheit zu bringen. Das machte es einfacher. Kimura legte dem Jungen seine rechte Hand auf die Brust. Unter seiner Hand begann seltsam zu leuchten. Der Brustkorb des Jungen hob und senkte sich, fast konnte man die pulsierende Kraft spüren, die gerade durch seine Adern strömte. Die Haut des Jungen veränderte sich, zuerst verschwanden die Brandbläschen, dann die starken Brandrötungen. Auch die Lebensgeister schienen wieder in den Jungen zurückzukehren, der ihn ungläubig anstarrte. „Die Schmerzen... sie sind weg.“ Er setzte sich auf, rieb sich den nun nicht schmerzenden, sondern nur noch leicht verspannten Nacken und seine blutig gescheuerten Handgelenke, die auf geheimnisvolle Weise in Sekundenschnelle verheilten. „Danke, Herr.“ Seine großen, noch vom Rauch geröteten Augen, die in dem verdreckten Gesicht regelrecht leuchteten, waren voller tiefempfundener Dankbarkeit. „Ich weiß nicht, was ihr gemacht habt, aber ich werde es euch nie vergessen.“ Kimura lachte. „Nenn mich nicht Herr. Mein Name ist Kimura“, antwortete der Elf und half ihm auf. „Wie ihr wünscht, Herr.“ Der Junge verbeugte sich. „Wenn du mich noch mal ´Herr´ nennst, steck ich dich zurück in den Pranger.“
„VORSICHT!“ schrie Tibor. Doch in dem winzigen Augenblick, den die Warnung brauchte, um von Kimuras fieberhaft arbeitendem Gehirn aufgenommen zu werden, hatte Matheis sich bereits von hinten wie ein Affe auf ihn gestürzt. Seine Beine schlangen sich um Kimuras Taille, die linke Hand krallte sich in den schwarzen Haarschopf, der rechte Arm schwang einen glänzenden Dolch. Sogar seine Zähne versuchten nach Gesicht und Hals des Söldnerjungen zu schnappen. Frenya, die weit oben über ihnen kreiste, schrie wütend auf und stürzte pfeilschnell herab.
Kimura griff nach oben und versuchte Matheis Haare zu fassen, doch der drehte den Kopf geschickt hin und her. Fast schien es aussichtslos, den Jungen zu fassen, dessen drahtige Gliedmaßen reinste Fangarme waren. Immerhin gelang es dem kampferfahrenen Elf den Arm des rasenden Jungen abzufangen, als der versuchte, mit dem Dolch auf ihn einzustechen. „Ich werde nicht zulassen, dass du ihn befreist!“, schrie Matheis wie irre. „Ich will ihn brennen sehen!“ Wütend versuchte er die Hand mit dem Messer aus Kimuras Griff loszureißen. Aber dessen Rechte hielt sein Handgelenk eisern umklammert. Doch andererseits gab auch er Kimura kein Stück frei, was bei der kräftigen Gegenwehr seines Gegners jedoch nur eine Frage der Zeit sein würde. Zudem kam jetzt auch noch dieser verdammte Vogel hinzu, der plötzlich über ihm war und über ihn herfiel: „Wärr! Wärr!Wärr!“ Wild flatternd hieb sie mit ihrem schweren, dicken Schnabel auf seinen Kopf ein und zerkratzte ihm mit den schwarzen Klauen das Gesicht. Gleichzeitig fuhr Tibor auf und biss herzhaft in Matheis Hand. Seine Zähne waren spitz wie die eines Welpen und gruben sich in die Hand, bis Blut spritzte. Matheis schrie schmerzerfüllt auf und ließ den Dolch fallen, „Du kleiner Bastard!“
Kimura fing den Dolch auf und rammte ihn mit aller Kraft in das rechte Bein des Jungen, bis zum Griff. Dann drehte er ihn im Bein halb herum und zog ihn mit einem kräftigen Ruck wieder heraus. Sofort sprudelte Blut hervor. Matheis schrie lautstark auf und ließ sofort locker. Darauf hatte Kimura gewartet, der den blutigen Dolch in seinem Gürtel verschwinden ließ. „Was auch immer er getan haben mag“, knurrte er, packte Matheis und schleuderte ihn mit gekonntem Schulterwurf von sich, „niemals verdient er es, zu verbrennen!“ Der verletzte Junge schlug hart auf den Boden auf. Dann war auch schon Kimura über ihm, trat ihn mit Wucht in die Seite, dann mehrfach gegen das stark blutende Bein. Tibor wandte sich ab und hielt sich die Ohren zu. Er wollte das gellende Schmerzensgeschrei des anderen Jungen nicht hören. „Niemals, hörst du?“ blaffte Kimura Matheis an, packte in dessen dichten Haarschopf und riss ihn brutal daran hoch. Der Junge schrie und heulte vor Schmerz. „Ganz im Gegensatz zu dir, du krankes Schwein!“ knurrte der Elf. Matheis bekam es mit der Angst: „Was machst du...warte ich...“
Kimura schleifte ihn an den Haaren wütend zu dem brennenden Podest des Prangers. Matheis schrie jetzt noch gellend, jetzt vor Todesangst. Er brüllte wie wahnsinnig, schlug hilflos um sich, doch vergebens. Im nächsten Moment riss Kimura ihn hoch und schleuderte ihn mit unerwarteter Kraft auf das brennende Podest. Sofort fing Matheis Kleidung Feuer. „Erleide nun das Schicksal, das du Tibor zugedacht hast!“
Er berührte mit zwei Fingern kurz das Holzpodest, dann kehrte er dem unglückseligen Matheis den Rücken zu. Das Holz des Podestes bog sich an den Seiten plötzlich hoch, so das der sich wie irre hin und herwerfende, brennende Junge wie in einer riesigen, hölzernen Hand gefangen war. „Du heilst, du formst Holz wie Wachs“, staunte Tibor mit großen Augen. „Bist du ein...“ „Später!“ Kimuras Blick richtete sich gen Himmel. „Kannst du wieder laufen?“
„Dank dir ja!“ „Dann lauf! Der nächste Pfeilhagel ist im Anflug!“
Sie rannten so schnell Tibor vermochte. Seine nackten Füße klatschten über das Kopfsteinpflaster. Hinter ihnen ging das Podest nun völlig in Flammen auf. Matheis Schreie hallten über den ganzen Platz. „Was für ein grausamer Tod!“ stellte Tibor fest, als er unvermittelt stehen blieb und zurückblickte. Überrascht vernahm Kimura Mitleid in der Stimme des Jungen. „Bist du wahnsinnig? Was machst du da? Wir müssen uns irgendwo unterstellen, bis der Pfeilhagel vorbei ist.“
„Aber das ist unmenschlich!“ schrie Tibor ihn an. Der Elf machte eine verächtliche Handbewegung. „Er bekommt nur das, was er dir zugedacht hat.“
„Ich weiß!“ Tibor schluckte. „Dennoch... Kannst du sein Leid beenden? Bitte!“
Kimura sah den wackelig neben sich herschreitenden Jungen überrascht an. “ „Denkst du, er hätte an deiner Stelle Mitleid gezeigt?“
Tibor schnaubte verächtlich. „Sicher nicht. Aber ich bin nicht er. Bitte, erlöse ihn!“
Kimura seufzte. Sie durften nicht noch mehr wertvolle Sekunden verlieren, die Pfeile regneten bereits herab. Also fuhr er blitzartig herum, kraftvoll den Dolch schleudernd. Um sich selbst wirbelnd flog die Klinge geradewegs in Matheis Gesicht, durchschlug die Stirn genau zwischen den Augen und drang bis zum Griff ein. Das Schreien verstummte abrupt. „Danke.“ Tibor wischte sich mit dem dreckigen Handrücken über die Augen und setzte Kimura nach, der bereits wieder losgelaufen war.
„Ich werde euch Menschen nie verstehen!“ rief der Elf ihm zu, der gerade auf den Türeingang eines kleinen Backsteinhauses zusteuerte.
„Er war nicht immer so. Es gab mal eine Zeit, da waren wir Freunde.“
„Das war dein Freund?“ Kimura, der den Eingang erreicht hatte, zog Tibor schnell neben sich. „Dann möchte ich nicht deine Feinde kennen lernen.“ Nur wenige Meter vor ihnen prasselten die ersten Pfeile geräuschvoll zu Boden.
„Ich hatte Matheis Zorn verdient“, gab Tibor zu. „Er wurde mal für etwas ausgepeitscht, das ich verbrochen habe. Ich hätte mit meinem Geständnis seine Bestrafung verhindern können, war aber voller Angst. Ich meine, hast du schon mal dabei zugesehen, wenn jemand ausgepeitscht wird? Die Peitsche reißt dir die Haut in Fetzen vom Leib. Die Schmerzen sind unerträglich. Und ich war noch nie besonders robust.“
„Was hattest du verbrochen?“
„Ich habe den Opferstock im Quirinusmünster geplündert, und zwei goldene Kerzenhalter habe ich auch mitgehen lassen.“ „Und was hast du mit dem Geld gemacht?“
„Eine wunderbare Nacht verlebt,“ schwärmte Tibor bei der Erinnerung, „mit reichlich Essen und einem wunderschönen Mädchen.“
„Dein Freund wurde ausgepeitscht, weil du mal richtig essen und zum Mann werden wolltest?“ Kimura schüttelte den Kopf. „Ich hätte ihn nicht aufhalten sollen.“ Er streckte im Gehen den linken Arm aus. Tibor lachte. „Kann nicht jeder so heldenhaft sein wie du! Wäre ja auch schlecht, dann bist du ja gar nichts Besonderes mehr.“
Kimura schnaubte verächtlich. „Oh, ich werde immer etwas besonderes sein. Aber niemals ein Held. Meine guten Taten sind nicht uneigennützig, sondern zielgerichtet. Ich bin kein närrischer Weltverbesserer. Ich bin nur ein Krieger mit einer Mission, der alles Erforderliche unternimmt, um sie zu erfüllen.“ Tibor lächelte wissend. „Aber du hättest mich nicht retten müssen. Trotzdem hast du es getan. Vielleicht bist du mehr Held, als du denkst.“

Fortsetzung folgt... ( Bei Interesse)
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